Die Lust am Untergang

Photo courtesy of National Nuclear Security Administration / Nevada Field Office

Segeln und das Coronavirus

In den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts kursierte, begründet oder unbegründet, die große Angst. Angst davor, dass der kalte Krieg auf einmal heiß werden könnte und sich Ost und West ihre frisch gebauten Atomwaffen um die Ohren hauen, bis niemand mehr übrig ist, der auf einen roten Knopf drücken könnte.


In Windeseile wurden Bunker gebaut, Notfallpläne erstellt und die Bevölkerung vorbereitet, also u.a. mittels der „Aktion Eichhörnchen“ zu Hamsterkäufen aufgerufen. Ich war zu der Zeit noch nicht einmal geplant, aber habe gelesen, wie durch Presse und sogenannte Experten die Angst damals ständig neu befeuert wurde. Wenn am nächsten Tag der Atompilz statt der Sonne aufginge, bliebe man wenigstens als Schatten mit einer Ravioli-Dose in der Hand verewigt.


In Zeiten, in denen der russische dem amerikanischen Präsidenten hilft ins Amt zu kommen, taugt der kalte Krieg als Schreckgespenst allenfalls noch fürs Bunker-Museum. Damals wie heute gilt: Schlechte Nachrichten verbreiten sich besser als gute. Man muss möglichst mit einer Schlagzeile die Emotionen schon bis zum Anschlag ausreizen, um eine hohe Auflage oder gute Einschaltquoten (bzw. Follower und Klicks) zu bekommen. Es muss also etwas Neues geschehen, und wenn man die Nachrichten der letzten Wochen verfolgt, lässt der Corona-Virus mittlerweile sogar den religiösen Terrorismus blass aussehen. Corona hier, Corona da. CoVid-19 zum Kaffee, SARS 2.0 in der Kantine, Todes-Virus beim Bäcker und die große Pandemie auf dem Klo. Spätestens seit der Virus Italien erreicht hat, wo in wenigen Wochen die Segelsaison losgeht ist klar: Das Thema geht auch an uns Seglern im Allgemeinen und unserer Arbeit als Offizielle bei Regatten im Speziellen, nicht vorüber. Was heißt das also für uns?

Wir werden alle sterben

Vor etwas mehr als einer Woche bekam ich die insgesamt fünfte Email von einem (nicht-europäischen) Umpire-Kollegen. Er machte sich Sorgen wegen des Ausbruchs in Venetien, im Hinblick auf ein Event dort in zwei Monaten. Nachdem ich ihm schon geschrieben hatte, dass momentan niemand abschätzen kann, was bis dahin passiert und ich auf die Organisatoren vertraue, kam dieses Mal ein Link zu einem Blogbeitrag zum Thema „Segeln und das Coronavirus“, den ich mir dann notgedrungen durchlesen musste.


Der Beitrag stammt von einem gewissen Jean-Pierre Kiekens, („oxford-educated development economist“) und ist, das muss man ihm zu Gute halten, mit Quellenangaben hinterlegt. Ein Experte also, der zumindest vordergründig nüchtern-wissenschaftlich arbeitet. Es schadet also nicht, sich das geschriebene näher anzuschauen. Und das hat es tatsächlich in sich: Die Ausbreitung des Virus verdoppelt sich alle 2.4 Tage, Experten schätzen, dass innerhalb eines Jahres 40-70% der Weltbevölkerung infiziert sein wird, Todesrate mindestens 1% etc. pp. Richtig düster sind aber erst seine Voraussagen: „Diese Pandemie wird global und unglaublich tödlich“ und „Es ist offensichtlich, dass die Situation bald so sein wird, dass die olympischen Spiele abgesagt werden müssen“.


Seine Empfehlungen: Regatten absagen, die Segelsaison allenfalls auf Club-Level, ja nicht zu Events per Flugzeug reisen und am besten nie ohne Atemschutzmaske irgendwo hin gehen. Hat er recht? Müssen wir auf all die Veranstaltungen verzichten, auf die wir uns den Winter über gefreut haben, oder ist das Ganze ein weiteres Beispiel zum Thema Clickbaiting, wie es neudeutsch heißt?


Quelle: World Health Organization (WHO)

„Es gibt Dinge, die den meisten Menschen unglaublich erscheinen, die nicht Mathematik studiert haben.“ (Archimedes)

Man braucht nicht Mathematik studiert zu haben, um zu wissen, dass eine Verdoppelung alle 2,4 Tage, ein exponentielles Wachstum also, sehr schnell sehr viel ergibt. Geht man mit der Zahl der nachgewiesenen Fälle von vor ca. 2 Wochen ins Rennen (80.000), bedeutet das:


Die Zeit bis alle 7,2 Milliarden Menschen infiziert wären, ist etwa 40 Tage (das wäre Anfang April). Heute wären es bereits 6 Mio. Infizierte und es kämen bis morgen nochmal 1.7 Mio. hinzu. Die Aussicht, dass binnen eines Jahres 40-70% der Welt das Virus hätten ist damit verglichen geradezu mega-optimistisch. Was die 1% Sterberate bedeuten würde, kann jeder ausrechnen, der das möchte.


Allein schon diese Zahlen scheinen also nicht richtig zusammenzupassen, und es wird noch unstimmiger, wenn man diese mit den öffentlich zugänglichen Zahlen der WHO vergleicht: Bei etwa 100.000 nachgewiesenen Fälle bis Freitag den 6.3., pendelt die Zahl der täglich neu nachgewiesenen Fälle um im Mittel 1.400 (der Erwartungswert ist 1.000 mal höher). Wenn diese Zahl konstant bliebe, würde es ca. 5.400 Jahre dauern bis nur etwa 40% der Weltbevölkerung -nachgewiesen- infiziert wären. Wer also an Corona sterben möchte, müsste erstmal ziemlich alt werden.


Wie bei allen Zahlen ist der Kontext das Entscheidende. So bezieht sich zum Beispiel die Verdoppelungsrate alle 2,4 Tage auf den Beginn einer Epidemie. Kiekens erwähnt das zwar, geht aber nicht genauer darauf ein. Und das ist gefährlich, bedenkt man, dass er als selbsternannter Experte dazu rät Events abzusagen und nicht mehr zu reisen. Der arglose Segler wird wissentlich mit dem Panik-Virus infiziert, das einzige Virus, das sich wirklich exponentiell ausbreitet.


Sollte bei keinem Hamsterkauf fehlen: Ein Buch für die Wochen zu Hause.

Was können wir Segler tun?

Können wir also unsere Segelsaison vergessen bevor sie angefangen hat? Die Antwort ist: Wir wissen es nicht. Niemand kann mit Bestimmtheit sagen wie die Lage morgen, in vierzehn Tagen geschweige denn im Sommer aussehen wird. Punkt.


Die Wahrscheinlichkeit, dass der Spuk in vier Wochen weitestgehend vorüber ist, ist vermutlich genauso hoch wie das bis Jahresende die Hälfte der Menschen auf dem Planeten das Schnupfen hat. Regatten jetzt abzusagen kann man machen, man muss aber nicht. Die Situation kann (und wird) in ein paar Wochen eine andere sein, besser oder schlechter.


Häufiges Händewaschen, aufs Händeschütteln verzichten und in der U-Bahn nicht die Haltegriffe abzulecken hilft dabei, sich nicht anzustecken und sind das Eine, was man derzeit tun kann. Das Andere ist auf die Kaffeesatzleser und Propheten des Weltuntergangs zu hören. Dann kann man bis zum Winter alles absagen, in den Supermarkt rennen und sich mit Raviolidosen und italienischer Pasta ausstatten. Oder man ergattert zu astronomischen Preisen noch irgendwo ein paar Atemmasken bzw. setzt sich eine Papiertüte mit Gucklöchern auf, falls das Geld nach Aktion Eichhörnchen nicht mehr reicht (Die Papiertüte kann man auch in einer Protestverhandlung tragen).


Basteltipp: Corona-Schutzmaske


Was man nun macht bleibt jedem selbst überlassen. Ich für meinen Teil habe nach dem Studium der Infektionszahlen auf der Südhalbkugel (<100; dort ist gerade noch Sommer) entschieden: Abwarten statt Absagen.


Um es frei nach Benjamin Franklin zu sagen: Wer die Segelei zugunsten der Sicherheit aufgibt, der hockt noch im Herbst panisch in seinem Keller, mit einer Papiertüte über dem Kopf und der letzten Konservenbüchse in der Hand.


In diesem Sinne,


Mast- und Schotbruch