Wie schreibt man eigentlich eine Protestentscheidung?

    • Offizieller Beitrag

    Überblick:

    In diesem HOWTO geht es um das Entscheiden von Protesten und Anträgen auf Wiedergutmachung.

    Es geht dabei nicht um Regelkunde, sondern mehr darum, wie man als Schiedsrichter zu einer konsistenten Entscheidung kommt.

    Es soll eine Hilfestellung sein, wie man Tatsachen ermittelt (finding facts), aus diesen dann Schlußfolgerungen (conclusions) zieht und zu einer Entscheidung kommt - und all das schlußendlich noch vernünftig zu Papier bringt.


    Grundsätzlich lohnt ein Blick in das WS Judges Manual, welches sich in Kapitel K ausführlich mit dem Thema Anhörungen beschäftigt.

    Das Manual findet ihr in der Filebase oder einfach hier:

    raceofficials.de/filebase/index.php?file/11/


    Im folgenden versuche ich euch eine kurze Praxisanleitung zu geben.


    Gültigkeit:

    Als erstes müssen wir feststellen, ob der Protest oder Antrag auf Wiedergutmachung gültig ist.

    Da dies ein umfangreicherer Punkt ist, beschäftigen wir uns mit der Gültigkeit separat in einem späteren HOWTO.


    Ist der Protest oder Antrag gültig, eröffnen wir die Anhörung.


    Festgestellte Tatsachen (Facts found):

    Nachdem alle Parteien und Zeugen gehört und alle Fragen gestellt sind, betrachten wir alle gesammelten Informationen und versuchen zunächst, alle Fakten in eine chronologische Reihenfolge zu bringen.

    Ein Fakt ist alles, was wir messen können - in Metern, Knoten, Richtungen, worin auch immer.

    Wenn wir es messen können, ist es ein Fakt.

    Um einen Fakt zu ermitteln und zu benennen müssen wir noch keine einzige Regel kennen - wir beschreiben lediglich, was die Boote tun.


    Natürlich gibt es einige Aussagen, die strenggenommen keine Fakten, sondern Schlußfolgerungen sind.

    Beispielsweise sind der Schlag, auf dem ein Boot segelt oder ob Boote überlappen, oder auch, wann sie in die Zone eintreten, Schlußfolgerungen.

    Würde man versuchen, sämtliche Begriffe in den festgestellten Tatsachen zu vermeiden, die bereits einen Regelbezug haben oder in den Regeln definiert sind, würde der ermittelte Sachverhalt wahrscheinlich einigermaßen lang und schwer lesbar ausfallen.


    Daher nutzen die allermeisten Schiedsrichter bestimmte grundlegende Ausdrücke in ihren Fakten.

    Das ist ok, solange man weiß, daß es sich bei diesen strenggenommen um Schlußfolgerungen handelt.

    Zum Beispiel:

    Fakten

    • Blau und Gelb segeln am Wind auf Kollisionskurs.
    • Blau luvt.
    • Gelb halst in einer Entfernung von 2 Längen zur Bahnmarke.
    • Blau geht mit dem Bug durch den Wind.
    • Gelb passiert hinter Blau.
    • Kontakt ereignet sich zwischen Blaus Bug und dem mittleren Abschnitt der Backbordseite von Gelbs Rumpf.
    • Gelb kam durch die Kollision zum Stillstand.
    • Blau führt eine Drehung inklusive einer Wende und einer Halse aus.

    Schlußfolgerungen

    • Blau hält sich von Gelb frei.
    • Gelb bricht RRS 11.
    • Blau hat Anspruch auf Bahnmarkenraum unter RRS 18.2(b).
    • Blau ist nach RRS 64.1(a) entlastet.
    • Blau nahm eine Ein-Drehungen-Strafe an.

    Beides

    • Blau ist in Lee von Gelb überlappt.
    • Gelb ist klar voraus von Blau.
    • Als Blau in die Zone eintritt, ist es in Luv und innen überlappt mit Gelb.
    • Kein Boot nimmt eine Strafe an.


    Versucht, kurze, präzise und leicht zu verstehende Fakten zu formulieren.

    Stellt euch eure Fakten als eine Spiegelstrichliste vor.


    Außerdem ist es wichtig, alle relevanten Fakten niederzuschreiben - und irrelevante Fakten auszusparen.

    Für die Beurteilung der Situation ist es nicht entscheidend, welche Farbe die Bahnmarke hat (es sei denn, dies ist ausdrücklich Teil des Protestes oder Antrages).

    Es hilft auch normalerweise nicht wirklich zu wissen, was 30 Sekunden vor dem Vorfall geschah (es sei denn, das Herstellen oder Lösen einer Überlappung lange vor dem Vorfall ist relevant für die Anwendung von RRS 17 - und auch dann ist in der Regel die Zeit nach dem Herstellen oder Lösen der Überlappungbis zum Vorfall nicht relevant).


    Haltet euren ermittelten Sachverhalt kurz und prägnant und stellt sicher, daß ihr alle Fakten habt, die ihr braucht.

    Was nicht in den Fakten enthalten ist, kann nicht als Basis für eine Schlußfolgerung dienen.

    Stellt euch vor ihr wisst lediglich, was in eurem ermittelten Sachverhalt steht.

    Euer ermittelter Sachverhalt sollte einen Außenstehenden in die Lage versetzen, ein Diagramm der Situation zeichen zu können, ohne in der Anhörung anwesend gewesen zu sein.


    Schlußfolgerungen und anwendbare Regeln (Conclusions and rules that apply):

    Zunächst werfen wir einen Blick auf unsere ermittelten Fakten und schauen, welche Regeln anwendbar sind.

    Hierzu gehen wir anhand der Fakten Schritt für Schritt durch die Situation und stellen uns folgende Fragen:

    • Welche Rechte haben die Boote?
    • Welche Verpflichtungen haben die Boote?
    • Kommen die Boote ihren Verpflichtungen nach?
    • Ändern sich Rechte oder Verpflichtungen?


    Anschließend notieren wir unsere Schlußfolgerungen, indem wir die Fakten mit den anwendbaren Regeln verbinden.

    Auch hier gilt: wir können nur schlußfolgern, was die Fakten hergeben.

    Hier ein einfaches Beispiel zur Verdeutlichung:

    Fakten

    1. Blau und Gelb segeln mit Wind von Backbord.
    2. Blau ist in Lee von Gelb und in einer Entfernung von eienr Bootslänge überlappt.
    3. Die Überlappung wurde von Gelb in Luv und von klar achteraus hergestellt.
    4. Blau luvt langsam.
    5. Gelb reagiert, indem es ebenfalls luvt.
    6. Die Entfernung zwischen beiden Booten war zu keinem Zeitpunkt geringer als eine halbe Bootslänge.

    "Verarbeitung"

    Blau und Gelb segeln mit Wind von Backbord.

    Blau ist in Lee von Gelb und in einer Entfernung von eienr Bootslänge überlappt.

    Recht: Blau hat Wegerecht nach Regel 11.

    Verpflichtung: Gelb muss sich von Blau freihalten.


    Die Überlappung wurde von Gelb in Luv und von klar achteraus hergestellt.

    Recht: RRS 17 ist nicht anwendbar, Blau hat Luvrechte.


    Blau luvt langsam.

    Verpflichtung: Blau muß Gelb Raum zum Freihalten unter RRS 16.1 geben.


    Gelb reagiert, indem es ebenfalls luvt.

    Die Entfernung zwischen beiden Booten war zu keinem Zeitpunkt geringer als eine halbe Bootslänge.

    Schlußfolgerung: Blau kann seinen Kurs jederzeit in beide Richgungen ändern, ohne dass es zu Kontakt kommt.

    Schlußfolgerung: Gelb hält sich daher frei.

    Schlußfolgerung: Blau gibt Gelb Raum zum Freihalten.

    Schlußfolgerungen und anwendbare Regeln:

    1. RRS 17 ist nicht anwendbar.
    2. Gelb hält sich von Blau frei, wie von RRS 11 gefordert.
    3. Blau gibt Gelb Raum zum Freihalten, wie von RRS 16.1 gefordert.
    4. Keine Regeln verletzt.


    Oft werden die Schlußfolgerungen verkürzt und lediglich Regelverstöße aufgeschrieben.

    Genaugenommen wäre es jedoch korrekt, alle Schlußfolgerungen niederzuschreiben.


    Wir müssen bei unseren Schlußfolgerungen auch immer daran denken, ob nicht evtl ein Boot Anspruch auf Wiedergutmachung hat.

    Das Protestkomitee kann Wiedergutmachung erwägen - auch, wenn dies nicht von einer der Parteien beantragt wurde.


    Entscheidung:

    Zunächst schauen wir, was in unseren Schlußfolgerungen steht.

    Gibt es Regelverstöße?

    Falls ja: sind Boote zu entlasten?

    Falls nein: was ist die anwendbare Strafe?

    Falls Wiedergutmachung gegeben werden soll: welches ist die fairste Lösung für alle Boote?


    Überprüft, ob eure Tatsachen, die Schlußfolgerungen und eure Entscheidung konsistent sind und aufeinander aufbauen.

    Hierzu gehen wir von der Entscheidung über die Schlußfolgerungen zurück zu den Fakten und anschließend wieder von den Fakten über die Schlußfolgerungen zur Entscheidung und stellen uns folgende Fragen:


    Welche Schlußfolgerungen brauchen wir für unsere Entscheidung?

    • Haben wir diese Schlußfolgerungen?
    • Haben wir mehr oder weniger Schlußfolgerungen als wir brauchen?
    • Wird unsere Entscheidung von unseren Schlußfolgerungen getragen?
    • Ist die Entscheidung logisch?
    • Gibt es Löcher?

    Welche Fakten brauchen wir für unsere Schlußfolgerungen?

    • Haben wir diese Fakten?
    • Haben wir mehr oder weniger Fakten als wir brauchen?
    • Werden unsere Schlußfolgerungen von unseren Fakten getragen?
    • Sind unsere Schlußfolgerungen logisch?
    • Gibt es Löcher?

    Folgen unsere Schlußfolgerungen logisch aus unseren Fakten?

    Folgt unsere Entscheidung logisch aus unseren Schlußfolgerungen?


    Wenn unsere Fakten, Schlußfolgerungen und Entscheidung noch nicht wasserdicht sind, sollten wir noch einmal überprüfen, wo etwas fehlt und ggf entsprechende Fakten nachermitteln, zB indem wir den Parteien weitere Fragen stellen.

    Wenn alles konsistent und logisch ist, schreiben wir die Entscheidung wie oben beschrieben nieder.



    Ich hoffe, meine Erklärung hilft ein bisschen..

    Falls ihr Fragen, Wünsche oder Anregungen habt, sind diese immer herzlich willkommen - bitte einfach unten posten.


    Viele Grüße

    Thorsten

  • Hallo Thorsten, alles klar und logisch. Aber mein Kopf schwirrt. Muss ich noch einmal lesen. Vielleicht auch noch ein drittes mal.

    Danke Gode

  • Lieber Torsten, das hast du alles sehr logisch und folgerichtig aufgeschrieben. Ich habe zur Zeit nur eine kleine böse Aussage dazu: "Jetz weiß ich, warum viele internationale Jurys für eine einfache Entscheidung Stunden brauchen."


    Aber natürlich ist dies der richtige Weg zur Entscheidung.

    Gruß Gode